Rolf Winnewisser (*1949)
Ohne Titel, 2013
Acryl (Indigo) auf Baumwolle
220 x 330 cm
Inv.-Nr. 3720
Ein einziger Farbton bestimmt dieses Bild. Indigo, ein begehrtes Pigment, zieht seit der Antike Menschen in seinen Bann. Über die Farbe Blau schreibt Goethe (1749–1832) in seiner Farblehre, dass wir sie gern ansähen, nicht weil sie «auf uns dringe», sondern weil sie uns zu sich ziehe. Betrachten wir Rolf Winnewissers Gemälde, so zieht es uns auch in sein Atelier. Dort beschäftigt sich der Künstler multimedial mit Fragen nach den Ursprüngen und den Bedingungen von Bildlichkeit, der Wahrnehmung, der Erkenntnis sowie mit Fragen der Visualisierung des Denkens und Empfindens. Besonders die Auseinandersetzung mit der Dekonstruktion des französischen Philosophen Jacques Derrida (1930–2004) prägt den Künstler. Derrida behauptete, dass der Verstand permanent gewillt sei, in die – letztlich unzusammenhängende, chaotische – Wirklichkeit Kohärenz und Sinn zu interpretieren. Winnewisser untersucht dies mit den Mitteln der bildenden Kunst.
Was auf den ersten Blick klar ersichtlich erscheint, löst sich bei genauerer Betrachtung auf: Schränke werden durchsichtig und legen den Blick auf ihr Inneres sowie Utensilien und Geräte frei. Obwohl nichts genau zu sehen ist, meinen wir alles identifizieren zu können. Es entsteht eine Nähe zum gezeigten Sujet wie zu einem alten Bekannten, dessen Name einem nicht mehr einfällt. Das Atelier mit Aktenschrank, Ablagen, Notizzetteln, Locher und Stiften erinnert an ein modernes Forschungslabor, an einen realen Bild-Entstehungs-Raum. In Ohne Titel setzt der Künstler analoge Filmtechniken in Malerei um, indem er die Szenerie mit einem durchscheinend-lasierenden Indigoauftrag in Einzelbildern, in Streifen, einfängt, die sich in den Betrachtenden zusammensetzen. So wird man Übereinstimmungen mit der eigenen Werkstatt oder dem eigenen Arbeitsraum finden, obwohl es diese klaren Gemeinsamkeiten nicht gibt. Wie bei Derrida und den Dekonstruktivisten zerfällt das Eindeutige. Lustvoll und akribisch schafft Winnewisser Werke mit fruchtbarer Mehrdeutigkeit.
Rolf Winnewisser (*1949, Niedergösgen) besucht die Schule für Gestaltung in Luzern und arbeitet seit 1974 als freischaffender Künstler. Winnewisser gewann zahlreiche Preise und Stipendien und stellte im In- und Ausland aus, unter anderem 1972 an der documenta V in Kassel. Mit theoretischen Fragen der Wahrnehmung, Erkenntnistheorie, Sprachwissenschaft und des Films verknüpft Winnewisser dasjenige Medium, welches der Intention des Kunstwerks am besten entspricht. Sein Werk umfasst Hinterglasmalereien, Bildrollen und -tafeln, Linol- und Holzschnitte, Lithografien, Radierungen, Collagen, Künstlerbücher, Objekte, Installationen, Fotografien und Filme.
Text: Julianna Ban
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Rolf Winnewisser (*1949)
Untitled, 2013
Acrylic (indigo) on cotton
220 × 330 cm
Inventory no. 3720
A single color dominates this picture. Indigo, a coveted pigment, has captivated people since antiquity. About the color blue, Goethe (1749–1832) wrote in his Theory of Colors that we enjoy looking at it "not because it advances us, but it draws us after it." Viewing Rolf Winnewisser's paintings, we are also drawn into his studio. There the artist engages in various media with questions about the origins and conditions of pictoriality, perception, knowledge, and the visualization of thought and feeling. The artist is particularly influenced by the French philosopher Jacques Derrida's (1980–2004) concept of deconstruction. Derrida argued that the mind is constantly attempting to interpret coherence and meaning into ultimately disconnected, chaotic reality. Winnewisser uses visual art to explore this.
What appears clear at first glance dissolves upon closer inspection: Cabinets become transparent, revealing their interiors along with utensils and devices. Although nothing is clearly visible, we believe we can identify everything. A closeness to the depicted subject emerges, like an old acquaintance whose name we can no longer recall. The studio, with its filing cabinets, shelves, note pads, hole punch, and pens, resembles a modern research lab, a real space where pictures are created. In Untitled, the artist translates analog film techniques into painting by capturing the scene in individual frames of filmstrips with a translucent indigo glaze, which come together in the viewer. One might find similarities with one's own workshop or workspace, even though these clear commonalities do not exist. As with Derrida and the deconstructionists, the definitive disintegrates. Winnewisser joyfully and meticulously creates works with fertile ambiguity.
Rolf Winnewisser (*1949, Niedergösgen) attended the Schule für Gestaltung in Lucerne and has been working as an artist since 1974. Winnewisser has won numerous awards and scholarships and has exhibited in Switzerland and internationally, including documenta V in Kassel in 1972. Linking theoretical questions of perception, epistemology, linguistics, and film, Winnewisser chooses the medium that best matches the intention of the artwork. His oeuvre includes reverse glass paintings, scroll paintings, panel paintings, linocuts, woodcuts, lithographs, etchings, collages, artist’s books, objects, installations, photographs, and films.
Text: Julianna Ban