Kunstwerk des Monats
Juni 2023
OHNE TITEL, 1989
Cécile Wick (*1954)
Fotografie (Lochkamera, Performance)
9.5 x 11.5 cm
Inv.-Nr. 991–994
Ein liegender Frauenkörper. Träumerisch entrückt, die Lippen leicht geöffnet, die Augen geschlossen. Es ist diese einschlägige Intimität des Bildmotivs, die der Serie trotz des kleinen Formats die gewollte Anziehungskraft verleiht und uns dazu bewegt, sie genauer zu betrachten. Die vier Abbildungen sind allesamt Selbstporträts der Künstlerin, Cécile Wick, und entsprechen in ihrer Konzeption beispielhaft Wicks Vorstellung des gültigen Bildes. «Gültige Bilder», so die Künstlerin, «müssen verführen, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und dies auf eine Weise, dass ihre Ausstrahlung nicht plötzlich erlischt.» Entsprechend interessiert sich Wick gerade nicht für den objektiven, dokumentarischen Charakter der Fotografie. Vielmehr sucht die Künstlerin in der Überwindung einer blossen Abbildung der Wirklichkeit nach einem reflexiven Potential des Bildes, einem Moment der Selbstbefragung. Was sehe ich? Welche Emotionen löst es aus? Wieso sehe oder fühle ich etwas und andere nicht? Solche Fragen stellen sich jedoch erst ein, wenn das unmittelbare Erkennen von Motiven (Mensch, Strasse, Landschaft usw.) nicht mehr ausreicht.
Wichtig ist in dem Zusammenhang auch, dass im Verständnis von Wick eine Fotografie noch kein Bild ist, sondern erst einmal nur Material. Bei genauerem Hinsehen stellt sich nämlich auch heraus, dass es sich bei der Serie Ohne Titel nicht um gewöhnliche fotografische Abbildungen handelt. Es sind mit der Lochkamera in Mehrfachbelichtung aufgenommene Selbstporträts. In der Überlagerung der Bildebenen und Grautöne verbleibt ihr Gesicht in der Schwebe, ist Abbild der Wirklichkeit und mystische Erscheinung zugleich. Träumerisch entrückt, verklärt sich ihre Gestalt auf den Bildern, ist ebenso intim gegenwärtig wie überzeitlich unnahbar. Ihr Körper scheint in einem Moment der Transzendenz, die menschliche Hülle überwunden, mit seiner Umgebung zu verschmelzen.
Über die motivische Ebene hinaus bricht Wicks künstlerischer Ansatz zudem mit den gängigen zeitlichen Strukturen der Fotografie. Denn ihre Arbeitsweise produziert gerade keine Momentaufnahmen, wie sie in Form des Schnappschusses gerne mit dem Porträt assoziiert werden, im Gegenteil. Die hier betrachteten Bilder der Künstlerin entstanden aufgrund der für die Lochkamera notwendigen Belichtungszeit erst als Resultat einer mehrstündigen bewegungslosen Performance. Es handelt sich dabei also gerade nicht um das Einfrieren eines Augenblicks, sondern um die Ausdehnung des einzelnen Moments. Stillstand als Prozess, Fotografie als Performance. Solche Vielschichtigkeiten auf den zweiten Blick sind es, die Cécile Wicks Arbeiten auszeichnen. «Je länger ich das Bild betrachte», erklärt die Künstlerin, «desto weniger erkenne ich, worum es geht, desto stärker entzieht sich der Inhalt, desto mehr werde ich jedoch involviert. So kommt es zu einer Begegnung mit sich selbst. Das Bild ist dafür der Anlass.»
Cécile Wick (*1954) studierte von 1974 bis 1978 Kunstgeschichte, Literatur und Theater in Zürich und Paris. Seit 1980 stellt Wick regelmässig im In- und Ausland aus. 1998 gründete die Künstlerin mit Peter Radelfinger die F.I.R.M.A, die seither vor allem Kunst-am-Bau-Projekte initiiert und ausführt. Neben ihrer künstlerischen Tätigkeit lehrte Wick bis 2016 zudem als Professorin für Fotografie an der Zürcher Hochschule der Künste. Sie lebt und arbeitet in Zürich.
Text: Silvan Benz