Kunstwerk des Monats
November 2024
My garden is my pardon, 1986/1987
Biefer/Zgraggen (Zusammenarbeit 1983–1999)
Video auf VHS (digitalisiert)
20 min 4 s
Inv.-Nr. 687
Aus einem grauen Betonboden ragen kahle Stöcke wie ein Wald aus blätterlosen Bäumen. Widerstände aus Draht spriessen auf weissen Wattebäuschen. Aus rechteckigen Kästen wachsen rote Fingernägel wie Blütenblätter. Die Videoarbeit My garden is my pardon, zu Deutsch Mein Garten ist meine Entschuldigung, zeigt einen dystopischen Garten, in dem vermeintlich organisches Material zum Wachsen gebracht werden soll.
Dafür schuf das Künstlerduo Biefer/Zgraggen ein Versuchslabor der anderen Art. In einem Kellerraum im Zürcher Kunsthaus Oerlikon präsentieren sie die surreale Szenerie eines pseudo-wissenschaftlichen Versuchslabors. Beat Zgraggen tritt als Gärtner auf, der den Betonboden bestellt und Gewächshäuser aus Transparentfolie schafft. Marcel Biefer zeigt sich als Laborant im weissen Kittel und erklärt die Versuchsanordnungen. Er führt unter anderem einen «wachsenden Widerstand» und «reifende Zündkerzen» vor.
Ein Trichter aus Kunststoff wird als Tulpensorte präsentiert, rote Plastiknägel als Sprösslinge von Sekretärinnen und die für Bürokraten entwickelten Bleistifte wachsen mit einer leichten Rechts-Drehung aus ihrem Spitzer. Nicht nur die bizarren Setzlinge, auch die künstlichen Lichtverhältnisse und die hallende Akustik im Raum untertage erzeugen eine endzeitliche Atmosphäre. Die Arbeit des Künstlerduos scheint ein verzweifelter Versuch, Landwirtschaft in lebensfeindlicher Umgebung zu betreiben. Dabei gemahnen sie an eine zivilisatorische Katastrophe.
Der Entstehungszeitraum der Videoarbeit 1986/1987 setzt die künstlerischen Inhalte in direkten Bezug zur Nuklearkatastrophe von Tschernobyl. Am 26. April 1986 explodierte ein Reaktorblock des ukrainischen Kernkraftwerks und setzte eine zerstörerische Menge radioaktiver Stoffe frei. Der Vorfall hatte enorme gesundheitliche, ökologische und sozio-ökonomischen Auswirkungen: Unter anderem mussten 6400 km² landwirtschaftliche Fläche aufgegeben werden. My garden is my pardon ist als Reaktion lesbar, als eine entschuldigende Geste an die nachfolgenden Generationen.
«Selbstverständlich werden in unserem Labor gestrenge Kontrollen durchgeführt, wie das Abhören von Wachstumsgeräuschen. Bei einer Katastrophenübung signalisiert der Laborassistent Gefahr», schreiben die Künstler in der begleitenden Publikation zum Film. Das nach Tschernobyl verstärkte Bedürfnis nach wissenschaftlicher Kontrolle findet seinen Ausdruck in der überzeichneten Wissenschaftlichkeit der Versuchsanordnungen von Biefer/Zgraggen. Die Absurdität ihrer Handlungen bringt die Betrachtenden zum Schmunzeln und entfaltet eine humoristische Komponente, wenn etwa rosa Kaugummi als «Knallblasenblütler» vorgeführt wird, der auch als Panzerabwehrwaffe eingesetzt werden kann. Mit seinem post-apokalyptischen Garten schafft Biefer/Zgraggen ein Zukunftslabor, das durch die atomaren Kriegsdrohungen aus Putins Moskau an erschütternder Aktualität gewinnt.
Marcel Biefer (*1959) und Beat Zgraggen (*1958) bildeten 1983–1999 das Künstlerduo Biefer/Zgraggen. Marcel Biefer war nach einer Hochbauzeichnerlehre als Hilfskoch tätig, bevor er 1982–1986 die F+F Schule für experimentelle Gestaltung in Zürich besuchte. Beat Zgraggen absolvierte eine Ausbildung zum Lehrer und Landwirt und arbeitete als Agronom, bevor er 1986–1988 ebenfalls an die F+F ging. In konzeptbasierten Medienarbeiten und Installationen setzten sie sich mit gesellschaftlichen Themen, Archäologie, Ethnologie und dem modernen Kunstbetrieb auseinander. Das Duo erhielt mehrere Stipendien. Seine Arbeit wurde in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland gezeigt.
Text: Anja Grossmann