Kunstwerk des Monats
April 2024
DUERME I–III, 2023
Pavel Aguilar (*1989)
Interaktives Instrument, Holz und Metallzungen
je 37 x 70 x 32 cm
Inv.-Nr. 5305
Drei türkisblaue Kästen stehen in den Regalen der Robinson-Bibliothek. Ihr quaderförmiges Format fügt sich passgenau in den Abstand der schmalen Regale ein. Ihre leuchtende Farbigkeit jedoch hebt sie deutlich hervor. Sie durchbricht den homogenen Eindruck der Bibliothek, ihrer grauen Wände und den hier versammelten Büchern. Pavel Aguilars Arbeit Duerme I–III ist eine Intervention. Sie bietet einen eigenen künstlerischen Zugang zur hier präsentierten Sammlung von rund 4'000 Robinsonaden, die Peter Bosshard (1942–2018) zusammengetragen hat.
Der Begriff «Robinsonade» geht zurück auf Daniel Defoes Roman Das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe von 1719. Darin beschrieben wird die Geschichte eines schiffbrüchigen Seefahrers, der sich auf eine unbewohnte Insel rettet. Unter widrigen Umständen gelingt es ihm, zu überleben, dabei einen klaren Geist und seine vermeintliche Tugendhaftigkeit zu bewahren. Während seines einsamen Überlebenskampfes vertieft Robinson Crusoe seine christlichen Überzeugungen – so das Narrativ. Der in vielen Adaptionen der Erzählung ausgeklammerte Teil ist die Vorgeschichte des Seefahrers. Er beteiligte sich am transatlantischen Dreieckshandel, in dem nicht nur Waren, sondern auch Menschen als Sklaven zwischen Europa, Afrika und Amerika verschifft wurden. Folglich sind auch Rassismus und Gewalt, Kolonialismus und Menschenhandel Teile dieser Erzählung, die auch in der Vermittlung der Robinson-Bibliothek nicht ausgespart werden sollen.
Dieses Anliegen verfolgt auch Aguilar mit seiner Arbeit. Duerme I–III ist Teil der künstlerischen Erweiterung Ein Wiegenlied vom Gold, die er 2023 mit der Kuratorin Desirée Hieronimus (*1994) umsetzte. Der Fokus lag dabei auf einer Aneignung des Raums, welche die komplexen Bezüge kolonialer Verflechtungen der Robinsonaden aufgreift. Dafür nutzt Aguilar das Medium Musik. Mit Duerme I–III schafft er drei Objekte, die auch als Instrumente, als sogenannte Kalimbas funktionieren. Die darauf angebrachten Metallzähne lassen sich durch das Anschlagen mit dem Fingern zum Klingen bringen. Von links nach rechts nacheinander aktiviert, erklingt so die Melodie des lateinamerikanischen Schlaflieds Duerme Negrito im Raum – ein in der Kolonialzeit entstandenes Wiegenlied, dessen Liedtext auf den Sklavenhandel Bezug nimmt und das heute noch gesungen wird. Wie die Geschichte von Robinson Crusoe ist auch dieses Lied Teil der Kindheitserinnerungen des Künstlers.
Die drei türkisblauen Kästen lassen an die Farbe des atlantischen Meeres denken. Sie wecken Assoziationen mit Südseeromantik und paradiesischem Ferienwetter. Zugleich sind sie ein Eingriff, eine Einmischung in die bibliophile Sammlung, die nicht nur unzählige Fassungen einer schönen Erzählung umfasst, sondern auch kritisch zu hinterfragende Themen unserer europäischen Geschichte birgt.
Pavel Aguilar wurde 1989 in Tegucigalpa, Honduras, geboren. Nach einer Ausbildung zum Violinisten studiert er audiovisuelle Kommunikation in Tegucigalpa und von 2018–2020 Kunst am Institut Kunst Gender Natur der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel. Er lebt und arbeitet im Aargau und in Zürich.
Text: Anja Grossmann