Kunstwerk des Monats
Dezember 2023
OHNE TITEL, 1991
Adrian Schiess (*1959)
Aquarell auf Papier
Diverse Masse
Inv.-Nr. 2233–2235
Unprätentiös sind die Fetzen von Adrian Schiess. Fetzen, Bruchstücke, Überbleibsel, doch wovon? Schiess erarbeitete seine Fetzen, indem er grosse Papierrollen voller Intuition und Lust bemalte, anschliessend zerriss und – teils beidseitig – erneut bemalte. In diesem Prozess ist der Zufall bewusst mit einbezogen. Schiess positioniert sich damit gegen das klassische Tafelbild (rechtwinklig, gerahmt, an der Wand gehängt), das die Vorstellung von guter Kunst seit mehr als einem halben Jahrtausend dominiert. Die Fetzen setzen mit dem Bruch konventioneller Kunstvorstellungen sowie deren Kuration ein Zeichen gegen die etablierte Kunstwelt der 1970er- und 1980er-Jahre und deren Blue Chips, den Jungen Wilden und ihren Kuratorinnen und Kuratoren.
Das Werk zeichnet sich durch seine expressiven Farbflächen und abstrakten Kompositionen aus. Allein die Farbwahl ist bewusst, willentlich eingesetzt. Die Aquarellfarben ermöglichen es dem Künstler, Farben mehrschichtig aufzutragen, durchscheinen zu lassen, wodurch den Fetzen eine zarte ästhetische Qualität zu Grunde liegt. Doch die Aquarellfarbe bleicht aus, sodass der Schiess einzelne Fetzen austauschen könnte. Dergestalt haftet dem Werk, durch die eigene Vergänglichkeit als auch durch den Arbeitsprozess etwas Zeitliches an. Die Überlappung der Fragmente bringt die Formen und Farben in ein ständiges Spiel zwischen Zwei- und Dreidimensionalität und loten die Grenze zwischen Malerei und Skulptur aus. Auch den ungeplanten Zufall lässt Schiess an seinem Werk teilhaben. Auf einem der Fetzen ist ein Fussabdruck sichtbar. In der ersten Ausstellung von Adrian Schiess in der Galerie Bob Gysin 1982 war das Werk auf dem Fussboden ausgelegt und die Besucherinnen und Besucher konnten darüber gehen. Der erste, der darüber lief und sich mittels Abdrucks verewigte, war der Künstler selbst.
Adrian Schiess’ Werk ist ein herausragendes Beispiel für abstrakte Kunst, welche die Grenzen der Malerei erkundet und den Betrachtenden möglichst viele Zugänge ermöglicht. Er lädt dazu ein, seine eigene Interpretation zu finden und noch unbekannte, offene Fragen zu stellen. Diese Vielseitigkeit ist ein Merkmal von Schiess’ Kunst, die sie so faszinierend und ansprechend macht.
Adrian Schiess (*1959, geboren in Zürich) absolvierte eine Ausbildung zum grafischen Gestalter, wandte sich danach der Kunst zu und erhielt schnell die ersten Stipendien sowie Preise. An der Biennale in Venedig vertrat er 1990 die Schweiz; zwei Jahre später stellte er Werke an der Documenta IX in Kassel aus. Schiess gehört zu den wichtigen Vertretern der abstrakten Malerei.
Text: Julianna Ban