Kunstwerk des Monats
Januar 2024

NEW YORK STOCK EXCHANGE COMPOSITE PRICES, 1994

Matthias Bosshart (*1950)
Seidenglanzemaille auf Zeitungspapier auf Holz, 5-teilig
je 40 x 30 x 3 cm
Inv.-Nr. 2297 I–V

Wann hatten Sie das letzte Mal eine Liste in der Hand? Vielleicht war es Ihr Einkaufszettel? Vielleicht das Post-it an Ihrem Bildschirm mit den heutigen To-Do's? Die Kreditkartenabrechnung? Ein Lieferschein? Oder vielleicht sassen Sie in Ihrem Lieblingsrestaurant und studierten die Speisekarte (auch sie ist eine Liste der angebotenen Leckereien)? Und wer Kinder hat, wusste im vergangenen Monat um die Bedeutung von Wunschzetteln... Menschen hatten schon früh das Bedürfnis, Ordnung in ihr Leben und ihre Welt zu bringen. Sie versuchten, mithilfe von Katalogen, Verzeichnissen und Listen die scheinbare Unordnung um sie herum überschaubar zu machen. Ihre Motivation war sehr unterschiedlich: Die mesopotamischen Sumerer erstellten im 4. Jahrtausend v. Chr. Steuerlisten auf Tontafeln, der Verfasser des Matthäus-Evangeliums dokumentierte um 80/90 n. Chr. einen umfangreichen Stammbaum von Jesus Christus, 1869 wurde das Periodensystem der Elemente – eine Liste mit besonderer Anordnung – von zwei Forschern fast zeitgleich vorgelegt. All diesen Listen ist gemein, dass sie mit viel Disziplin und Kenntnis ihres Gegenstands zusammengetragen wurden.

Listen haben praktische Zwecke. Aber vielleicht gehören Sie zu den Menschen, die die Schönheit in diesen Listen sehen können: Die Ästhetik in der Kumulation von Wissen in Bibliothekskatalogen und Literaturverzeichnissen. Die Eleganz in Taktfahrplänen. Die noch unbekannten Welten hinter bestimmten Wörtern in Lexika (warum verliert man sich sonst so schnell darin?). Auch Matthias Bosshart war von einer Liste, die er während seines Stipendiums in New York ab und an zufällig sah, beeindruckt. Bosshart interessierte sich nicht für Börsenkurse. Aber die Tatsache, dass die New York Times jeden Tag diese gleiche Auflistung zigtausendfach drucken und um den Globus fliegen lässt und wiederum zigtausend Menschen akribisch bestimmte Zeilen mit den sich täglich ändernden Ziffern studieren, faszinierte den 34-Jährigen. In seinem Werk New York Stock Exchange Composite Prices kann man die Börsenkurse unter anderen von American Express und Disney über fünf Tage, vom 9. bis 13. Mai 1994, selbst verfolgen. Der Künstler klebte das Zeitungspapier auf Platten und malte über die gedruckten Listen seinen eigenen poetischen Code in Grün. Man ist versucht, den Rhythmus von Farbe und Aussparungen nachzuvollziehen, und die Ordnung, die auch diese Liste verspricht, zu erkennen. Dabei verliert man sich – ähnlich wie in einer Enzyklopädie.

Matthias Bosshart wurde 1950 in Eschlikon TG geboren. Nach einer Grafikerlehre in Zürich und Reisen nach Asien, in den Mittleren und Nahen Osten sowie Nordafrika besuchte er die Fachklasse für Gestaltung an der Kunstgewerbeschule Basel. 1979 besuchte er die Experimentalfilmklasse an der Edmonton University in Kanada. Kunststipendien führten ihn nach Rom, Dakar und New York. Heute lebt und arbeitet Matthias Bosshart in Zürich.

Text: Florian Hürlimann