Kunstwerk des Monats
Juni 2024
o.T. (resistant to containment), 1995
Silva Reichwein (*1965)
Öl auf Leinwand
20 x 21 cm
Inv.-Nr. 2385
Silva Reichwein schafft ein Gemälde wie ein Flirren – beinahe ein Quadrat, beinahe ohne Titel. Die Künstlerin malte es aus unzähligen, feinen Farbtupfen aus Primärfarben, Grüntönen, Weiss und Schwarz auf eine quadratische Leinwand. In einem meditativen Prozess setzte sie mit Hilfe eines kleinen Spachtels Ölfarbe repetitiv und mechanisch auf den Malgrund. «Die aufgetragene Farbe begann mehr und mehr die (Bild-)Fläche mit den Bildkanten zu überdecken […] es ist ein organisches Wachsen, wie sich die Farbe beim Malen ausdehnte», beschreibt die Künstlerin diesen Vorgang. Feine Spitzen der Farbkleckse texturieren die Oberfläche und verleihen dem Gemälde eine plastische Qualität, die nicht nur über die Leinwand hinauszuwachsen scheint, sondern die Arbeit tatsächlich um einen Zentimeter erweitert.
Reichwein nennt ihre Arbeit o.T. (resistant to containment), frei übersetzt: schwer zu vereinnahmen. Das im Titel vermittelte Konzept der Abkehr einer spezifischen Eingrenzung der Arbeit betrifft einerseits seine räumliche Dimension. In der Summe ergeben die einzelnen Farbtupfen ein gleichmässig gesetztes Geflecht aus Farbe, vermeintlich ein Muster, das sich bis ins Unendliche fortzusetzen scheint. Andererseits vermittelt Reichwein damit ein Unterlaufen von Abstraktion. Pixeln vergleichbar, verdichtet das Auge der Betrachtenden die gesetzten Farbwerte zu einem malerischen Gesamteindruck, zu einer belebten Oberfläche mit rostbraunem Grundton. Das Ergebnis weckt Assoziationen an gegenständliche Motive, wie einen bunten Konfettiregen oder eine Blumenwiese im Hochsommer. Für Reichwein vermittelt ihre Arbeit allerdings keine symbolische Bedeutung oder gar die abstrakte Darstellung eines Motivs. Ihre stark konzeptbasierte Arbeit ist viel eher ein Ausloten der Wirkung malerischer Mittel und der körperlichen Erfahrung, die diese hervorrufen.
«Es geht darum, dass diese Komplexität in und mit den Bildern gerade so organisiert ist, dass eine Empfindung hervorgerufen wird», erklärt die Künstlerin ihren Ansatz. Reichweins Arbeit umfasst ein Vordenken, die Erfahrung des Malvorgangs durch die Künstlerin selbst sowie das Sehen und Nachspüren der Rezipierenden beim Anblick ihrer Malerei. Reichweins Arbeit ist so reichhaltig, wie die Erfahrungen, die sie erzeugt.
Silva Reichwein, geboren 1965 in Zürich, studierte an der Ecole Supérieure des Beaux-Arts in Genf (heute HEAD) und bei Anna Oppermann (1940–1993) an der Hochschule der Künste in Berlin (heute UdK), wo sie 1993 als Meisterschülerin abschloss. Neben Auslandsaufenthalten in Barcelona, Japan, New York und Peking lebte sie in Berlin und Zürich. Sie erhielt eine Förderung des Goldrausch Künstlerinnenprojekts des Berliner Senats, sowie kantonale und eidgenössische Stipendien der Schweiz. Ihr Werk ist in verschiedenen öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten. Zurzeit lebt und arbeitet sie in Zürich.
Text: Anja Grossmann