Kunstwerk des Monats
Oktober 2024
Kastanie, 2009
Felix Studinka (*1965)
Kohle auf Papier
28.5 x 22 cm
Inv.-Nr. 3262
Wie ein unvollendbares Puzzle lassen sich die Zeichnungen der Serie Kastanie von Felix Studinka deuten. Beinahe jeden Morgen nimmt er auf der immer gleichen Bank im Belvoirpark in Zürich Platz, blickt auf einen Kastanienbaum, lässt dessen Anblick auf sich wirken und zeichnet ihn. Es sind zahllose Blätter entstanden, die den Baum scheinbar präzise abbilden – und doch entzieht er sich. Zehn Bilder mehr, vielleicht hundert, doch es bleibt vergebens: Der Baum lässt sich nicht in eine feste Form zwängen, er kann nicht vollständig erfasst werden. Er widersetzt sich dem Abzeichnen.
Die Baumstudien Studinkas sind unzählige Variationen einer Begegnung mit dem Kastanienbaum, gefolgt von dessen zeichnerischer Umsetzung. Dabei spielen das Wetter, die Stimmung des Künstlers und die Umgebung eine wesentliche Rolle. All diese Faktoren beeinflussen die Wahrnehmung, während sich das Objekt selbst fortwährend wandelt – lebendig und in ständiger Bewegung. Es gibt nicht die eine wahre Version des Baumes. Studinkas Zeichnungen sind vielmehr Vorschläge, Möglichkeiten, ihn zu erfahren und zu begreifen. Ein Baum ist zu mächtig, um ihn in seiner Gesamtheit zu erfassen. Dort, wo das Blätterdach dichter wird, verschwimmt der Blick. Eine lineare Zeichnung scheint unmöglich. Die vielen Ansätze des Künstlers schaffen jedoch Ordnung. Sie bringen Ruhe in das Unfassbare und ermöglichen eine klare Sicht auf eine von vielen möglichen Erscheinungen des Baumes.
Felix Studinka verwendet Kohle für seine Zeichnungen. Das Material wirkt unmittelbar und direkt, doch zugleich ist die Kohle brüchig und leicht verwischbar. Der Künstler spürt sie in seinen Händen, fühlt ihre Eigenschaften, und so wird auch der Tastsinn in seinen Werken spürbar. Die Linien, die er zeichnet, sind porös und durchlässig; sie schaffen keine festen Begrenzungen, sondern lassen Raum für Offenheit und Veränderung.
Felix Studinka, geboren 1965 in Zürich, wo er heute lebt und arbeitet, studierte Kunstgeschichte, Filmwissenschaften sowie ostasiatische Kunstgeschichte. Von 1997 bis 2006 war er als Kurator am Museum für Gestaltung in Zürich tätig, bevor er sich als Autodidakt ganz seiner Kunst widmete.
Text: Elin Weiss