H2A6319

Kunstwerk des Monats
Oktober 2025

Ohne Titel (Mr Bobbitt),1999

Anne Sauser-Hall (*1953)
Wolle, Holz, Metall
252 x 120 x 10 cm
Inv.-Nr. 2834

Ein Kleid ohne Körper. Zu gross, um getragen zu werden, zu starr, um weich zu fallen. Es ist weder Bekleidung noch Skulptur im klassischen Sinn, sondern eine Hülle, die vom Fehlen erzählt. Anne Sauser-Hall vergrössert Kleidungsstücke, hebt sie aus der Intimität des Alltags heraus und macht sie zu Zeichen. Was vertraut war, wird fremd, verstörend; was Nähe versprach, spricht nun von Distanz.

Die textile Arbeit hängt im Raum, riesengross, einen halben Meter über dem Boden endend. Schwarze Wolle, Holz, Metall: Weichheit und Verletzlichkeit treffen auf Härte und Widerstand. So entsteht eine Spannung, die das Werk prägt, zwischen Leichtigkeit und Schwere, Offenheit und Schutz, Nähe und Distanz. Die Arbeiten Sauser-Halls sind ohne Titel, doch sie tragen Namen in Klammern. Namen, die wie ferne Echos wirken, Erinnerungen hervorrufen, ohne etwas zu illustrieren. Es sind Dedikationen, kleine Stolpersteine für die Erinnerung. Ohne Titel (Mr Bobbitt) gehört in dieses Geflecht.

Der Name verweist auf einen Fall der frühen 1990er-Jahre in den USA: John Bobbitt, der seine Frau misshandelte und vergewaltigte, wurde zum Sinnbild männlicher Gewalt. Lorena Bobbitt, die ihn entmannte, stand am Ende als Freigesprochene da und wurde, lange vor #MeToo, von feministischen Bewegungen zur Symbolfigur erklärt. John Bobbitt selbst suchte zeitweise Schutz im Kloster, kleidete sich in eine «Robe der Reue». Ein Gewand, das Würde verleihen soll und doch zugleich dazu dient, Gewalt und Schuld zu verdecken. So wie sich Priester religiöser Organisationen hinter ihrer Soutane verstecken können – auch jene, die Machtmissbrauch an Frauen, Männern und Kindern begehen –, verweist Sauser-Halls Werk auf die Ambivalenz institutioneller Hüllen: Das Werk lässt an Strukturen denken, in denen Täter durch Institutionen geschützt werden – sei es in Familie, Gesellschaft oder Kirche.

Die strenge Form der Soutane verleiht der Arbeit eine stille Wucht. Sie erinnert an Minimal Art, die Reduktion zur Essenz stilisierte. Doch während Donald Judd (1928–1994) noch «what you see is what you see» proklamierte, verweigert sich Sauser-Hall dieser Eindeutigkeit. Ihre Arbeiten öffnen Räume der Erinnerung, sind mit Bedeutungen aufgeladen. Ohne Titel (Mr Bobbit) ist ein Bild des Widerstands: Gegen Gewalt, Unterdrückung sowie Missbrauch und fordert auf, die unsichtbaren Fesseln gesellschaftlicher Strukturen zu sprengen.

Anne Sauser-Hall wurde 1953 in Genf geboren, wo sie lebt und arbeitet. Sie schloss 1977 ihr Studium an der École Supérieure d’Arts Visuels in Genf ab, wo sie später, von 1994 bis 1995, auch selbst lehrte. Bereits ein Jahr später, 1978, wurde Anne Sauser-Hall von der italienischen Künstlerin Mirella Bentivoglio (1922–2017) eingeladen, ihre Arbeiten im Rahmen der thematischen Ausstellung für die 36. Biennale von Venedig (Materializzazione del linguaggio) zu präsentieren, der ersten in der Geschichte der Biennale, an der ausschliesslich Künstlerinnen teilnahmen. Ihre Werke wurden in der Schweiz sowie international in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt.

Text: Julianna Ban